Nándor Angstenberger, 2016

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Presseartikel über Nándor Angstenberger
Katalogpräsentation: HYPERION. Nándor Angstenberger
HYPERION
HYPERION

geboren 1970 in Novi Sad (ehemaliges Jugoslawien) /
deutsch-ungarische Nationalität; lebt und arbeitet in Berlin


Vita
1992
Studium an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg
1998
Diplom mit Auszeichnung
2000
Aufbaustudium Hochschule für Bildende Künste Hamburg
Preise und Stipendien (Auswahl)
2017
Stipendium des Kunstvereins Bellevue-Saal, Wiesbaden
2016
Stipendium ZF Kunststiftung
2015
Stipendium der Hansestadt Rostock
2012
Berliner Senatsstipendium Istanbul
Einzelausstellungen (Auswahl)
2016
HYPERION, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen
2014
Khom, Susanne Burmester Galerie, Putbus / Rügen, im CIRCUS EINS Kronprinzenpalais, Putbus / Rügen
2010
Pandemonium, Galerie Delikatessenhaus e. V. Leipzig
2009
Preview Berlin – The Emerging Art Fair, mit Christel Fetzer, Berlin 
Hier entsteht:, mit Claudia Michaela Kochsmeier, Kunstverein Ravensburg
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2015
Fantastisch! Vom Innersten der Bilder, Stadtgalerie Kiel
2014
Kunst Oberschwaben 20. Jahrhundert – 1970 bis heute, Museum Villa Rot, Burgrieden
2011
Magischer Abfall – Metamorphosen des Alltags, Kunsthalle Krems, Forum Frohner, Österreich
2009
Hellwach Gegenwärtig. Ausblicke auf die Sammlung Marta, Museum Marta Herford
Galerievertretung

Susanne Burmester Galerie, Putbus / Rügen

Katalogtext

Zwischen Wegwerfkultur und Weltmodell: Transformation, Utopie und Erinnerung

Roland Nachtigäller

100 Rührstäbchen aus Polystyrol, reinweiß, 11 cm lang, bekommt man im Haushaltshandel schon für 98 Cent. Man benutzt sie in der Regel für wenige Sekunden, ein, zwei Rührbewegungen durch den Kaffee oder Tee, dann ist ihr Zweck erfüllt. Die zeitliche Distanz vom Neuprodukt zum Abfall ist extrem kurz und auch der Geldwert dieser Objekte kommt dem eines gefundenen Astes sehr nahe.Dementsprechend gering ist auch die Aufmerksamkeit hinsichtlich der ästhetischen Gestaltung, die einem solchen Kurzzeithilfsmittel entgegengebracht wird. Dabei ergeben sich bei genauerem Hinsehen durchaus Fragen nach der Formgebung der Plastikrührer, die beispielsweise mit einer länglichen Öffnung, mit zwei Löchern oder mit ovaler, von einem Steg geteilter Öse ausgestattet sind, geformt wie eine Stopfnadel, ein Paddel oder ein Tennisschläger, mit Nut, wulstigem Rand oder gerundet und so weiter …

Im Werk von Nándor Angstenberger spielen diese Rührstäbchen eine nicht unwesentliche Rolle. Seine architektonischen Konstruktionen sind in ihrer Materialfülle überbordende Wucherungen, Dingwelten mit wuchtiger Bildkraft, die sich über die Jahre aus einer rein weißen, synthetischen Entrücktheit immer mehr mit Farbe aufgeladen und mit natürlichen Stoffen amalgamiert haben. Allen verwendeten Materialien aber ist gemein, dass es sich um mehr oder weniger wertlose, schon weggeworfene, ihrem eigentlichen Zweck nicht mehr dienliche oder in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gefundene Materialien handelt. Gerade bei den künstlichen Stoffen, den Kunststoffen, aber ist dieser Übergang von wertig zu wertlos – wie bei den Plastikrührern – ein fast fließendes Kontinuum, da auch die pekuniäre Bedeutung der Objekte erst in großer Masse überhaupt nennenswert wird. Treten – wie in jüngerer Zeit – Holzstücke, Muscheln, Stoffreste, Steine oder tote Insekten hinzu, wird die Bewertung dieser Bestandteile der skulpturalen Installationen immer verwickelter.

So sind Nándor Angstenbergers Werke eben auch keine Recyclingkunst, es geht ihm kaum um die möglichst ressourcensparende Wiederverwendung unseres Wohlstandsmülls, sondern vielmehr um eine erhöhte Aufmerksamkeit für die unbeachteten Dinge. Die Magie, die den bei genauerem Blick allzu oft seltsam anmutenden Wegwerfartikeln entlockt werden kann, die in den Gebrauchsspuren benutzter und dysfunktional gewordener Objekte schlummert, interessiert Angstenberger, der formale Reichtum ebenso wie das utopische Potenzial, das ihrer unerwarteten Begegnung miteinander innewohnt – und das inszeniert er mit großer Akribie und Leidenschaft.

Ausgehend vom nur scheinbar neutralen Weiß all dieser Gegenstände aus höchst unterschiedlichen Nutzungs- und Erscheinungszusammenhängen nimmt er die nahezu unerschöpfliche Vielfalt dieser Fundstücke als Ausgangspunkt für eine überbordende Lust am Weltenbauen, an traumwandlerischen Modellen ästhetischer und architektonischer Konstruktion, in der farbige Objekte sparsam und mit hoher Wirkkraft ihre poetischen Akzente setzen. Und so findet in seinen Skulpturen und Installationen noch eine zweite Umdeutung statt, die sich jenseits des ökonomischen Verwandlungsprozesses vollzieht und von Perspektivverschiebungen und Augentäuschungen getragen wird: Hier werden die nun schon mehrfach zitierten Rührstäbchen zu Fenstern und Säulen, zu Paneelen und Streben, während Plastikperlen wie Kuppeln und Tautropfen auftauchen, sich mit weißen Legosteinen, Verschlüssen und Papierkugeln zu Universen versponnener Baulust verbinden. Nicht selten setzen Fäden und Verspannungen, geklebte Linien auf Boden und Wänden dieses Vernetzen auch ganz konkret ins Bild und außerhalb des Bildes fort, verbinden die einzelnen künstlerischen Objekte zu einer komplexen Gesamtinstallation.

Es liegt verblüffend nahe, von der Idee des Weltenbaus, dem God mode der Modellkonstruktionen mit den zahllosen Entscheidungen über Aufstieg, Glanz und Untergang einzelner Materialien, zur Götterwelt selbst zu gelangen, erst recht angesichts des oftmals so eigenen, vielfach als mystisch erlebten Lichts über dem Bodensee, bei dem Himmel und Erde, Wasser und Sonne bisweilen zu verschmelzen scheinen. In der griechischen Mythologie entsprang aus einer solchen energiegeladenen Begegnung von Himmel (Uranus) und Erde (Gaia) der Titan Hyperion, der 2016 nicht nur titelgebend für Nándor Angstenbergers Präsentation im Zeppelin Museum Friedrichshafen ist, sondern auch
ein zentrales Werk an der Stirnwand des Ausstellungsraums bezeichnet. Es ist ein großes Wandrelief, in dem sich eine unbekannte Zivilisation mit Höhlenwohnungen, Nestgeflechten, mit Stegen, Brücken und Bögen in die weiße Tiefe eines Styroporblocks zu graben scheint. Wurzel- oder Lianensträngen gleich situieren kunstvoll eingeflochtene Äste diese Lebenswelt zwischen Himmel und Erde, flirrende Felsenstadt und schwebendes Luftgebilde in einem, bevölkert nur von einigen reglosen Spinnen und Motten. Der Blick gerät ins Taumeln angesichts dieser überbordenden Vielfalt der Materialien, die sich selbst gegenseitig verpuppen und enthüllen, mal Raumschiff und mal Erdhöhle, geradezu unermesslich in der Üppigkeit möglicher Formen.

Als seien Spinnennetz und Raupenkokon die Paten dieser feingliedrigen Agglomerationen, so verweben sich hier nicht nur Dinge und Objekte, sondern auch Bedeutungen und Erinnerungen. Es entsteht ein strukturiertes Chaos allein nach den Regeln des Künstlers, voller Bilder und persönlicher Bezüge, nicht sentimental, sondern lebenswarm, ein Speicher unerzählter Geschichten zwischen Zuflucht und Verteidigung.Nicht nur Sonnenformen, Strahlenkränze und Schutzräume sind hier zu entdecken, sondern auch Scherben und Trümmer, wehrhafte Aufbauten und todesdrohende Konstruktionen. Auf diese Weise wird – und ohne dass die biografischen Bezüge explizit formuliert werden – das Drama des Hyperion zum universellen Bild der Polarität von Himmel und Erde, Tag und Nacht, Leben und Sterben, in dem Nándor Angstenbergers Erfahrungen zwischen Jugoslawien, Ungarn und Deutschland lediglich den sehr persönlich geprägten Bauplan bestimmen.

Eine Gegenwelt ganz anderer Prägung ist dann der schwarze Skelettturm weiter vorne im Raum, eine Gitterstruktur, die wie in der Bewegung erstarrt wirkt, fast wie ein schmelzendes Zusammensinken, das an einem bestimmten Punkt eingefroren wurde. Tatsächlich entdeckt man erst relativ spät, dass es sich bei dieser äußerst fragilen Konstruktion um aufeinandergesetzte, an den Endpunkten zusammengeklebte verkohlte Streichhölzer handelt. Die dünnen Kanthölzer haben beim Abbrennen höchst individualisierte Formen angenommen, sich gebogen und verdreht. Geradezu wesenhaft scheinen sie sich aneinander zu halten und erst im Verbund zur nur scheinbar festen Struktur zu finden, still, schwarz, eigentlich untergegangen, dennoch voller formalem Leben – und zugleich jederzeit von der vollkommenen Zerstörung bedroht.

Dieses neue Leben aus verbrauchten Materialien schöpft auch das gleich daneben platzierte Stoffbild. Es besteht vollständig aus abgelegten schwarzen Kleidungsstücken des Künstlers und bezieht seine vielfältigen Schattierungen aus den unterschiedlichen Graden des Ausbleichens der getragenen Textilien. Ganz ähnlich wie in der Cinis (lat. Asche) betitelten Streichholzskulptur scheint auch in diesem Stoffbild noch eine Wärme zu stecken, hier nicht die des verzehrenden Feuers, sondern jene des lebendigen Körpers,  der seine Spuren und Erfahrungen in die Textilien eingeschrieben hat. Beide Werke sind Schöpfungen aus der Materialvernichtung – in der modernen Zivilisation ist das schlicht die Einmalverwendung (Streichhölzer) oder das Wegwerfen (Altkleider) –, die sie phönixgleich zu einem neuen, transformierten Leben erheben und ihre Geschichte fortschreiben.

Was sich bei dem Stoffbild noch als nicht so leicht zu entschlüsselnde Linien aus verschiedenen Textilstreifen zeigt, die in den unterschiedlichen Schattierungen sedimentierten Erdschichten gleichen, präsentiert sich im rot melierten Stoffturm Ignis (lat. Feuer) als ebenso einfache wie funktionale Konstruktionsform. Nándor Angstenberger zerschneidet nämlich die gesammelten Textilien gleich welcher Art in kleine Rechtecke (zumeist ungefähr 3 × 4 Zentimeter groß) und faltet sie – wie beim Wäschelegen und jeweils gehalten von einem Tropfen Klebstoff – zweimal aufeinander zu kleinen Stoffbausteinen. Diese werden dann hochgemauert, sorgfältig zu einem Block geschichtet, der innen hohl bleibt und sich außen in perfekter Geometrie zeigt: ein Feuerturm der abgelegten Körperhüllen, wehrhaft einen individuellen Raum schützend, der sich im Inneren verbirgt und ganz den Geist der verarbeiteten Kleider atmet.

Fast wie ein Mittler aber steht die große Verspannung Caelum (lat. Himmel) im Zentrum des Raumes, zwei unterschiedlich große, aus Fäden gezogene Kegelsegmente, zum Teil betretbar und offen sich über zwei skulpturale Elemente aus Styropor und Holz wölbend. Dieser Ort wirkt geradezu wie ein Materialbruch, alles ist temporär, aufgebaut für diesen Raum und den Moment der Ausstellung. Nur grob verbunden, wirkt der unverrottbare Schaumstoff mit den abgestorbenen Ästen wie das Aufeinandertreffen von technischer Produktion und natürlichem Wachstum, ebenso wie die farbigen Fäden und die bunten Klebestreifen eine hybride Verbindung aus mathematischer Präzision und improvisierter Konstruktion sind.

Immer zeigen sich die Verweise und Assoziationsräume, die Nándor Angstenberger schafft, vielfältig und offen, Bilder und Vorstellungen mischen sich mit Geschichten und Erinnerungen, Individuelles und Persönliches mit objektiver Faktizität und allgemeinem Wissen. Dabei spielt das Modellhafte seiner Installationen eine wesentliche Rolle, es sind Bauwerke des Möglichen, labile Konstruktionen der materiellen Wiederkehr, die in ihren Anspielungen zur griechischen Sagenwelt zwischen Triumph und Untergang, zwischen Schicksal und Verführung schillern. Im Modell wird das Kleine groß, man schaut auf Details, die ihr Eigenleben entfalten und so tun, als seien sie Teil einer eigenen, neuen Welt, in der das Leben zwar fremd und unerklärlich scheint, aber eben auch übersichtlich wird: Für einen Moment zeigen sich in einer zunehmend verwirrender werdenden Gegenwart die Ordnungen und Abhängigkeiten wieder greifbarer und damit auch begreifbarer. Imagination und Erwartungen, Hoffnungen und Träume legen sich über bauliche Konstruktionen, die selbst nur aus dem Abfall unseres allzu achtlosen Alltags bestehen. Nándor Angstenberger ist kein Anwalt der ökologischen Appellkultur, sondern seine Modellstrukturen verhandeln gesellschaftliche Diskurse und Anliegen in ebenso persönlich gefärbten wie universellen Zusammenhängen. Er ist ein Weltenbauer für die unerschöpflichen Möglichkeiten, die immer wieder in Erinnerung zu rufen sind, um auf die Kraft der Veränderung, auf das lebenspraktische Potenzial der Fantasie und die konstruktiven Möglichkeiten des genauen Hinschauens zu vertrauen – und dann zu handeln …

Alle biografischen Angaben wurden zum Zeitpunkt des Stipendiums verfasst und haben keinen Anspruch auf Aktualität. Für nähere Informationen besuchen Sie bitte die Webseiten der Künstler:innen, sofern vorhanden und hier aufgeführt.